Aus: Jürgen Wiechmann (Hrsg.): Zwölf Unterrichtsmethoden. Weinheim 1999, S. 35 ff.


Der folgende Beitrag wurde für Ausbildungszwecke stark gekürzt; Auslassungen sind gekennzeichnet.

 



Jochen Grell

Direktes Unterrichten

Ein umstrittenes Unterrichtsmodell


Immer wenn irgendwo irgendetwas Neues ...die Szene betritt, passiert über kurz oder lang dasselbe. Dann kommt einer ... daher und schreit: »Das ist falsch! ...Das ist Manipulation! Das ist gefährlich!« Die Rechtschreibreform ist ein Beispiel für diesen leicht vorhersagbaren Vorgang. NLP ein anderes.

Darum ist dieser kurze Bericht über eine empirisch geprüfte Unterrichtskonzeption zugleich ein kleines Lehrstück über die Dekonstruktion von Wissen durch den Wissenschaftsbetrieb.

»Die allgemein verbreitete Annahme, dass zum Lernen erstens der Wille gehört, zweitens eine klare Zielsetzung und drittens die Bereitschaft, sich für das Erreichen dieses Zieles auch gebührend anzustrengen, ... wird auch von der Wissenschaft geteilt« (Kintsch 1986, S. 518; Hervorhebungen von mir; J.G.). Das Direkte Unterrichten (so übersetze ich direct instruction) ist eine Weise des Unterrichtens, mit der man seinen Schülern helfen kann, intentionaler und zielbewusster, aktiver, effizienter und erfolgreicher zu lernen, als es oft in der Schule geschieht. Aber darf man das denn auch? Oder ist es falsch, unerlaubt, Manipulation und gefährlich?

 

Ein umstrittenes Unterrichtsmodell

 

Die Konzeption des Direkten Unterrichtens lernte ich durch zwei kurze Artikel kennen. Der erste stammt von Barak Rosenshine und Robert Stevens und steht im dritten Handbook of Research on Teaching (1986). Die dort beschriebenen Prinzipien leuchteten mir auf Anhieb ein, und ich fing gleich an, sie in meinem Unterricht auszuprobieren. Die zweite brauchbare Quelle ist Rosenshines Artikel in der ersten Auflage der International Encyclopedia of Education (Rosenshine1985). Meine Beschreibung des Konzepts des Direkten Unterrichtens bezieht sich auf diese beiden Darstellungen und auf meine persönlichen Erfahrungen, die ich selber beim Unterrichten damit gemacht habe.

Hat Barak Rosenshine zwischen der ersten und der zweiten Auflage der Encyclopedia eine Gehirnwäsche durchgemacht? Jedenfalls liest sich der Artikel in der neuen Auflage (Rosenshine/Meister 1994) wie ein gespenstisches Dokument der Dekonstruktion von Wissen durch das theoretische pädagogische Establishment. ...

»Effektivität« gilt in diesen Kreisen ebenso als pädagogisches Unwort wie »Messbarkeit«. Marian Heitger (1991) ... »Die pädagogische Aufgabe des Lehrers ist und bleibt Menschenbildung.«(Heitger 199 1, S. 53) »

 

So ist der Rosenshine/Meister-Artikel in der zweiten Auflage der Encyclopedia, ... als Informationsquelle über »direct instruction« völlig unbrauchbar. Denn er handelt nur noch von zwei Themen: (1) dass man »direct instruction« sehr verschieden definieren könne. ... Und (2) aus welchen Gründen man das Konzept scharf kritisieren müsse. Und diese »Gründe« sind dann die üblichen, aus dem theoretischen Schrifttum über Didaktik und Unterricht wohl bekannten Klischees zur Schul- und Lehrerkritik:

Übermäßige Lenkung, rigide, lehrergelenkter Unterricht, Effektivitätsdenken, autoritär, reglementierend, Faktenanhäufung statt Förderung der Denkfähigkeit, zu testbezogen, »passive« Methode des Unterrichts, Lernen sei nur noch das Eintrichtern von Lehrerwissen in Schülerköpfe, Lehrer belehrt, Schüler bleiben passiv (Rosenshine/Meister 1994, S. 1524‑30).

 

... Und man beachte, dass es sich hier um reine Geschmacksurteile handelt und nicht etwa um wenigstens halbwegs objektiv messbare, sachliche Aussagen. ....

Dem Unterrichtsmodell des Direkten Unterrichtens wird also vorgeworfen, es ermutige Lehrer, (1) dass sie ihren Schülern etwas beibringen wollen, (2) dass die Lehrer den Unterricht zu diesem Zweck steuern und (3) dass sie überprüfen, ob die Schüler das, was sie lernen sollen, auch wirklich gelernt haben. Im Klartext: Kritisiert wird, dass es ein Unterrichtsmodell ist. Kommen diese Vorwürfe nicht fast einem Berufsverbot gleich? ...

 

»Wir Lehrerinnen und Lehrer müssen lernen, darauf zu verzichten, den Kindern dauernd etwas beibringen zu wollen.< So ordnet der schriftstellernde Lehrer Paul Michael Meyer (1994, S. 19) autoritär an. Dies ist kein Einzelfall. In einer Diskussion hörte ich vor ein paar Tagen: Heute sei nur noch selbstgesteuertes Lernen angesagt: Die Lehrer müssten als Unterrichtende verschwinden.

 

In der deutschsprachigen Literatur kannte ich bis vor kurzem nur zwei kurze Erwähnungen des Direkten Unterrichtens. Beide klingen eher abschreckend. »Soll man sich als Lehrer kritiklos für eine Leistungsideologie einspannen lassen?«, fragt Bernd Weidenmann (1989, S. 1008) so verantwortungsvoll wie rhetorisch. Denn wer würde diese Frage schon mit ja beantworten? ...

Zur Abschreckung beschreiben Dichanz und Zahorik einige Unterrichtsstunden mit »direct instruction«, die sie in den USA beobachtet haben. Ein kleiner Ausschnitt:

»Es geht um das Thema >fiction< (Erzählung, Roman). >Setzt euch gerade hin! Legt eure Hände auf den Tisch, sonst nichts! Schaut mich an!( Der Lehrer liest aus einem Textbook den neuen Stoff in Regelform vor. Darin wird abstrakt beschrieben, was eine Erzählung ist, welches ihre Merkmale sind, woran man sie erkennen kann. Die Schüler wiederholen einzelne Aussagen im Chor, danach fragt sie der Lehrer einzeln ab. Anschließend geht der Lehrer dazu über, die Regeln in ungeordneter Reihenfolge noch einmal vorzutragen und abzufragen, die Kinder haben darauf im Chor zu antworten. Die Definition, was eine Erzählung ist, muss auswendig gekonnt werden. Immer wieder ertönt zwischendurch die Ermahnung >sit straight, pay attention ...< Der Lehrer bemüht sich sehr zu verhindern, dass die Aufmerksamkeit der Schüler abschweift.« (Dichanz/Zahorik 1986, S. 299).

Diese Beschreibung soll offensichtlich zeigen, wie stur, rigide, faktenbezogen, belehrend, eintrichternd, lehrerzentriert, lenkend, reglementierend, drangsalierend, ungehemmt herrschend, manipulierend, autoritär, ja, inhuman Direktes Unterrichten in der Praxis ist und wie wenig es sich eignet, die Denkfähigkeit und das seelische Wohlbefinden der Schüler zu fördern. Merkwürdigerweise wird in dieser Beschreibung nichts davon erwähnt, in welcher Weise die Schüler ihre Frustration über den unmöglichen Unterricht ausdrücken und wie sie ihren Protest zeigen. ...  Die Beobachtungsbeispiele überzeugen mich nicht davon, dass »direct instruction« eine unmögliche Unterrichtsform ist. Ebenso wenig kann ich Verständnis dafür aufbringen, dass das Auswendiglernen von Merkmalen, Regeln, Definitionen verachtenswert sein soll.

... Unterricht soll Verstehen, Einsicht, Kreativität, eigenständiges Denken, Autonomie, konstruktives Sozialverhalten und vieles mehr fördern. Nur: Was gibt es zu verstehen, wenn man noch gar nichts im Kopf hat? Worüber soll man selbstständig nachdenken, wenn man gar nichts weiß? Kreativität wächst nur auf einem breiten Fundament von Wissen. Kreativität entsteht nicht urplötzlich von selbst aus Freiheit, Regellosigkeit und gedanklicher Leere, sondern beginnt immer mit (1) Auswendiglernen, Kopieren, Imitieren, ja Nachäffen, (2) mit ausdauerndem Oben und hartem Trainieren und (3) damit, dass man sich in eine Sache verliebt. Verlieben aber kann man sich nur in etwas, mit dem man sich

intensiv beschäftigt..

 

Beispiele, die diese Sichtweise von Kreativität nahe legen, gibt es mehr als genug. Mozart konnte nicht nur Klavier, sondern auch andere Instrumente spielen, außerdem Noten lesen und schreiben. Konnte er all das ganz plötzlich spontan und ohne »primitives« Auswendiglernen und »stures, stumpfsinniges Üben? ... Bertolt Brecht stahl seine Ideen überall zusammen, schrieb ab und imitierte, .... Picasso kopierte als junger Mann altmodische Gemäldeschinken. ... . man kann nehmen, wen man will. Schaut man genauer hin, dann findet man, dass kreative Werke ohne das Verlieben in Vorbilder und ohne stures Auswendiglernen einer komplizierten »trockenen Grammatik« nie entstanden wären. ... Auswendiglernen ist der Nährboden für alle »höheren« kognitiven, emotionalen, sozialen Leistungen. Verachten wir das Auswendiglernen von »Fakten« und das Trainieren von Können, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir nicht allzu viel Kreativität bei unseren Schülern wecken.

 

Direktes Unterrichten, so wie ich es verstehe, verachtet das Auswendiglernen nicht und sieht Fakten nicht von vornherein als trivial und unwichtig an. Auch das Nachsprechen von Antworten im Chor sehe ich nicht als unpädagogisches militärisches Drill-Ritual, sondern als durchaus sinnvolle Lernmethode, die sogar Spaß machen kann. ...

...Und was ist mit dem so beliebten und vernichtenden Manipulationsvorwurf?. Der steckt ja in der Argumentation gegen Effektivität im Allgemeinen und Direktes Unterrichten im Besonderen implizit sowieso immer drin. Aber Lehrerinnen und Lehrern Manipulation vorzuwerfen, nur weil sie sich intensiv bemühen, ihren Schülerinnen und Schülern etwas beizubringen, ist genauso unpassend, wie eine Verabredung zum Kinobesuch als mafiöse Verschwörung zu klassifizieren.

...Mich nervt es eher, wenn die Lehrkräfte vorgeben, mir eigentlich gar nichts beibringen zu wollen, sondern stattdessen mehr oder weniger unbeholfen, ihren angelesenen Ideen über modernen oder progressiven Unterricht folgen. ... Dabei mache ich sehr gern bei praktischen Übungen, Rollenspielen, in Selbsterfahrungsgruppen und gruppendynamischen Seminaren mit. Aber wenn der Kurs zum Beispiel »Chinesisch 1l« heißt, möchte ich doch lieber, dass man mir die Anfangsgründe des Chinesischen beibringt, anstatt mit einem angenehmen Gruppenklima abgespeist zu werden.

...Aber es wird Zeit, dass wir uns genauer anschauen, was Direktes Unterrichten denn nun eigentlich ist.

 

Das Modell des Direkten Unterrichtens

 

...Es sagt ...: Deine Aufgabe als Lehrer ist es, den Schülern etwas beizubringen. Nimm diese Aufgabe wichtig und erfülle sie so effektiv, wie du kannst. ...

...Wenn ich will, dass meine Schülern etwas lernen, dann muss ich es ihnen beibringen.

Das ist die schlichte Grundidee des Direkten Unterrichtens. Lehrerinnen und Lehrer, die Direktes Unterrichten professionell und kompetent praktizieren, beschäftigen sich wenig mit trübsinnigen Betrachtungen über die zunehmend mangelhafte Begabung, Anpassungsfähigkeit, Erziehbarkeit, Lern- und Arbeitsmotivation der heranwachsenden Generationen. Sie wollen  jedem Kind so viel beibringen wie möglich. Dafür fühlen sie sich verantwortlich. Und sie bemühen sich intensiv und mit ansteckender Begeisterung, dieser Verantwortung gerecht zu werden.

 

Die Zutaten des Direkten Unterrichtens werden schon immer verwendet. Nur wird der konventionelle Unterricht damit meist viel zu flüchtig und zu inkonsequent gewürzt.

 

 

Die Zutaten des Direkten Unterrichts

 

1. Klar strukturierte Lernerfahrungen, 

2. kleine Schritte, flottes Tempo, 

3. detaillierte und redundante Erklärungen, 

4. viele Fragen und Aufgaben, alle Schüler üben aktiv, 

5. viele Rückmeldungen, viel Korrigieren von Schülerantworten,

6. mindestens 80 Prozent der Schülerantworten sind richtig, 

7. kurze Stillarbeitsphasen, Überwachen der Schülerarbeit, 

8. Lernerfolg durch Überlernen. 

Schülerantworten sollen zum Schluss fast automatisch kommen (bis 100 Prozent richtige Antworten). (Gage/Berliner 1996, S. 301 f.)

 


Drei Funktionen
überlappen sich beim Direkten Unterrichten ständig bzw. wechseln einander ab. Diese Funktionen sind nicht pedantisch zu interpretieren. Beim Unterrichten achtet man primär darauf, ob die Schülerinnen und Schüler lernen, und nicht darauf, ob man das Modell buchstabengenau ausführt. Man geht flexibel mit den Prinzipien um.

 

1. Demonstrations- und Präsentationsfunktion

 

Den Schülerinnen und Schülern wird mitgeteilt, was sie lernen sollen. Der Lehrstoff wird ihnen so deutlich wie möglich gezeigt, demonstriert, vorgemacht oder erklärt, oft mehrmals. Und zwar in kleinen, übersichtlichen, gut erlernbaren Happchen und nicht alles auf einmal. Natürlich gibt es Schüler, die den Lernstoff sogar dann begreifen, wenn er ihnen unübersichtlich und in großen, schwer verdaulichen Brocken verabreicht wird. Aber wir Lehrer sind ja nicht nur wegen dieser Schuler da, sondern auch wegen der anderen.

 

Wie wichtig die klare Präsentation des Unterrichtsstoffes ist, merkt man als Lehrer am besten, wenn man selbst einmal wieder ein Schüler ist .... Dabei kann man aber auch frustrierende Erfahrungen machen: Wie langweilig der Unterricht sein kann, wenn einen die Lehrer zu selbstgesteuertem Lernen erziehen wollen, anstatt einem die Kursinhalte beizubringen. Und dass man sich als Schüler sehr unfrei fühlen kann, wenn man Lehrer hat, die wollen, dass man sich frei fühlen soll, aber erst in zweiter Linie daran interessiert sind, dass man etwas lernt.

 

2. Üben unter Anleitung

 

Wenn der Lernstoff bei den Schülerinnen »angekommen« ist, muss er unter Lehreranleitung intensiv und in möglichst zügigem Tempo geübt werden, bis er »sitzt«. Das geht so:

 

• Man stellt eine Frage oder Aufgabe.

• Sie wird von einem Schüler beantwortet.

• Man gibt dem Schüler Feedback.

• Man stellt eine neue Frage usw.

 

Wenn Schüler schnell, sicher und richtig antworten, genügt eine kurze Lehrerreaktion (gut! - prima! - klasse! - o.K.1 -  ja! usw.). Kommt die richtige Antwort unsicher und zögernd, dann gibt man eine kurze Erklärung und bestätigt die Richtigkeit (richtig! sehr gut! - jawohl, du hast es! usw.). Ist die Antwort falsch, aber anscheinend eher aus Flüchtigkeit, wird sie korrigiert, und man macht schnell mit der nächsten Aufgabe weiter. Bei falschen Schülerantworten, die auf fehlendes Wissen hindeuten, gibt man Hilfen. Vielleicht erklärt man den Stoff auch noch einmal neu.

Mit diesen Lehrerfrage-Schülerantwort-Feedback-Sequenzen wird so lange weitergeübt, bis alle Schülerinnen und Schüler den Lernstoff beherrschen.

Man braucht für diesen Unterricht einen ausreichend großen Vorrat von Übungsaufgaben und -fragen.  ... Es ist sinnvoll, dieselben Fragen/Aufgaben mehrmals zu stellen. Mit zehn oder zwanzig Fragen und ein bisschen Lehrerfantasie kann man sehr gut eine Stunde lang üben, ohne dass die Schüler sich dabei langweilen müssen.

Antworten können im Chor gegeben oder aufgeschrieben werden. .. Schülerinnen und Schüler können als Lehrer eingesetzt werden und die Fragen vorlesen. Wie die Antworten gegeben werden, das lässt sich auf hundert Arten variieren und für Kinder abwechslungsreich und spannend machen. Erwachsene mögen es auch, wenn es im Unterricht Action gibt, wenn es schwungvoll, lustig, sogar albern zugeht. Unterricht muss auch nicht immer im Sitzen stattfinden. Beim Einüben von Informationen im Chor können Schülerinnen und Lehrer z.B. kreuz und quer durch die Klasse wandern. Wenn man in Bewegung ist oder bleibt, kann man nämlich besser lernen.

Wichtig ist das zügige Tempo und dass alle Schüler drankommen. ...Zurückhaltende, bescheidene Schülerinnen und Schüler warten oft darauf, aufgerufen zu werden. ...  Die Schüler in geordneter und vorhersehbarer Reihenfolge aufzurufen ist günstiger, als sie in Unsicherheit darüber zu lassen, wer als Nächste/r drankommen wird. In der Literatur wird oft empfohlen, zuerst die Frage/Aufgabe zu stellen und erst danach den Schüler aufzurufen, der sie beantworten soll. ... Dieser Rat klingt plausibel, ist aber falsch. Schüler sind in der Regel weniger aufmerksam, wenn sie erst nach der Frage aufgerufen werden.  ...

Üben unter Lehreranleitung - klingt das nicht schrecklich lehrerzentriert? Schüler drannehmen, die sich nicht freiwillig gemeldet haben - ist das nicht Schülerfolterung? Nein. Wenn es kompetent, mit Begeisterung und innerer Oberzeugung, fantasievoll und abwechslungsreich ausgeführt wird, dann ist Üben unter Lehreranleitung nach meinen persönlichen Erfahrungen den Schülerinnen durchaus nicht unangenehm ganz im Gegenteil, sie fühlen sich dabei wohl und sind stolz, dass sie etwas lernen. ...

In den Untersuchungsberichten über das Direkte Unterrichten heißt es trocken: Nicht nur die Lernergebnisse der Schülerinnen sind besser, wenn ihre Lehrerinnen direkt unterrichten. Auch ihre Einstellungen zu Schule, Lehrern und Lernen verschlechtern sich dadurch nicht.

 

3. Selbstständiges Üben

 

Erst wenn alle Schülerinnen und Schüler sicher geworden sind, dürfen sie selbstständig, also ohne direkte Lehrerlenkung und Lehrerkontrolle, weiterüben. Vorher sind längere Stillarbeitsphasen kontraindiziert. Jetzt muss die neue Fertigkeit sozusagen vom Schüler zusammengebaut werden. Das geht anfangs relativ langsam. Aber schließlich wird die neue Fertigkeit automatisiert. Die Schüler arbeiten schnell und sicher, denn sie müssen nicht mehr jeden Schritt gedanklich »einschalten«.

Das Arbeitsengagement von Schülern lässt normalerweise schnell nach, wenn sie allein arbeiten. Darum muss die selbstständige Arbeit überwacht werden. Schüler sind auch nur Menschen. ...

I

Die meisten Schülerinnen und Schüler wünschen sich Lehrerinnen, die sich richtig durchsetzen können. Sie fühlen sich nicht wohl in Schulklassen, die von Mitschülern regiert werden statt von Lehrern. Wer seine Schüler nicht überwachen will, der darf sie stattdessen ermutigen, ihnen helfen, sie zum Arbeiten motivieren, sie freundlich anfeuern usw. Ob wir es nun so oder so nennen: Als Lehrer müssen wir dafür sorgen, dass die Schüler intensiv und erfolgreich arbeiten, anstatt sich zu langweilen und sich gegenseitig zu stören. Kurze Lehrerkontakte mit einzelnen Schülern - etwa 30 Sekunden pro Schülerin - genügen. Längere Kontakte können ein Symptom dafür sein, dass die Präsentation nicht ausreichte.

 

Sind diese Prinzipien trivial?

 

Na und? ... Natürlich muss sorgfältig geübt werden. Selbstverständlich müssen die Schüler sicher sein, bevor sie selbstständig Aufgaben lösen können. Klar, muss man alle Schülerinnen drannehmen. Diese Grundsätze des Direkten Unterrichtens sind trivial. Das muss man erfahrenen und kompetenten Lehrern nicht mehr aufs Butterbrot schmieren. Wirklich nicht?...


Wenn man Unterricht beobachtet, findet man jedenfalls, dass meistens

- die Präsentation oder Demonstration des neuen Lehrstoffs viel zu flüchtig geschieht

- viel zu wenig unter Anleitung geübt wird,

- die Lehrerinnen nur einige wenige Schüler drannehmen (nämlich die, die sich sowieso immer 
  als Erste melden),

- die anfänglichen Fehler der Schüler nicht sorgfältig korrigiert werden, 

- der Stoff nur ein einziges Mal dargeboten, die Darbietung aber höchst selten so oft wiederholt 
  wird, bis alle Schüler den Stoff meistern,

- die Stillarbeits-Phasen viel zu lang sind, aber oft unfruchtbar bleiben, weil die Schülerinnen 
  und Schüler die neuen Inhalte noch nicht genügend beherrschen.

 

... Sehr wichtig ist, dass die Lehrer dafür sorgen, dass die Schüler möglichst viele richtige Antworten geben können. Die Lehrer müssen also ihre Übungsfragen und -aufgaben gezielt so formulieren, dass die Schüler sie erfolgreich beantworten können. Dieses Prinzip: ein hoher Prozentsatz richtiger Antworten, die schnell und beinahe automatisch gegeben werden, ist ein relativ neues Ergebnis der Unterrichtsforschung (Rosenshine/Stevens 1986, S. 383).

 

Weitere Überlegungen zum Direkten Unterrichten

 

Erstens: Das Unterrichtsmodell »direct instruction« sollte man nicht als Kritik an anderen didaktischen Konzeptionen verstehen. Erst recht nicht als einzig richtige Alternative zu anderen Unterrichtsformen. Wir brauchen keine didaktische Heilslehre, und didaktischer Pluralismus ist gewiss besser als didaktische Monokultur.

Das Modell verspricht nicht, alle Probleme des Unterrichts auf einen Schlag zu lösen, ... . Es sagt nur: So kann man auch unterrichten. Und die Schüler werden mehr lernen als bei dem üblichen Standardunterricht und sich dabei nicht ständig unwohl fühlen. ...

 

Zweitens: Unterrichtskonzeptionen und didaktische Modelle können leider nicht selbst unterrichten. Das können nur kompetente Lehrerinnen und Lehrer. ... Auch das Direkte Unterrichten kann misslingen. ... Ich inszeniere stures Pauken statt mitreißenden Unterricht, wenn ich dieses Unterrichtsmuster fundamentalistisch, zwanghaft, fantasie- und humorlos, gefühllos, lieblos, ohne Verständnis für und Respekt vor meinen Schülern, ohne Abwechslung, ohne Begeisterung, ohne innere Überzeugung und ohne Freude am Unterrichten abliefere. Ziller würde sich im Grabe umdrehen. Und Herbart würde darin rotieren.  ...

 

Drittens: Wenn wir nicht direkt unterrichten und jede Unterrichtsstunde ein weiteres Thema aus dem Lehrplan abhaken, schaffen wir vielleicht mehr Unterrichtsstoff. Die Schüler lernen allerdings weniger davon.  Mich befriedigt es mehr, wenn ich sehe, dass meine Schülerinnen und Schüler wirklich etwas können und wissen. Ich möchte auch nicht, dass sie hilflos herumstottern müssen, wenn sie erzählen oder aufschreiben sollen, was sie gelernt haben. Das empfinde ich als unwürdig.

 

Viertens: Der »Wir-müssen-den-Lehrplan-erfüllen-Unterricht«, in dem ...  viel zu wenig geübt wird, zerstört langfristig unsere Freude am Unterrichten und unser professionelles erzieherisches Engagement. Denn obwohl ich mir mit meinem Unterricht so viel Mühe gebe, erlebe ich beinahe täglich, dass meine Schülerinnen zu wenigkönnen und nichts richtigbegreifen. Das demoralisiert mich. ... Das Direkte Unterrichten ist eine gute Medizin gegen diesen pädagogischen Pessimismus, ...

 

Fünftens: Ich kann persönlich prüfen, ob sich das Direkte Unterrichten in meinem Unterricht für mich und meine Schüler bewährt oder nicht. Ich kann das Modell sogar »stückweise« ausprobieren. Wie reagieren meine Schüler darauf, wenn ich ihnen Fragen stelle, die sie beantworten können? Ich kann Experimente mit verschiedenen Methoden des Drannehmens machen. Ich kann Methoden erfinden, wie sich das Unterrichtstempo beschleunigen lässt; wie ich dieselben 10 oder 20 Fragen immer noch einmal stellen kann, ohne dass es für die Klasse langweilig wird; wie ich den Lehrstoff am geschicktesten präsentieren kann usw.


Prüfbarkeit durch die einzelne Lehrerin sollte bei einem anständigen Didaktikmodell eigentlich zur Standardausführung gehören. .. Didaktische Modelle sind gewöhnlich viel zu vage formuliert, als dass man sie selbst überprüfen könnte. .. Klare Vorschläge wie beim Direkten Unterrichten finde ich im Vergleich zu didaktischen Moraltraktaten eher befreiend.

 

Sechstens: Niemand ist verpflichtet, Direkten Unterricht zu praktizieren. ...

 

Siebtens: Direktes Unterrichten eignet sich für solche Themen, die gut strukturiert sind. ...    ... wir müssen die Themen, die wir unseren Schülern direkt beibringen wollen, zuerst selbst mit einer Struktur versehen, sie in eine zum Lernen geeignete Struktur bringen. Das ist durchaus auch bei solchen Themen möglich, die traditionell als höchst unstrukturiert gelten ... Beispielsweise glauben Viele, dass dies für das so genannte kreative Schreiben gelte. Aber es gibt auch auf diesem Gebiet vieles, was man direkt (auswendig) lernen und in kleinen Schritten (drillmäßig) einüben kann, wenn man nicht mit dem Ausmaß von Kreativität zufrieden ist, das die Schüler von sich aus einbringen, wenn man sie einfach so schreiben lässt, wie Sie wollen. Zum Thema Schreibkunst existiert eine umfangreiche Literatur, die man nur zur Kenntnis nehmen muss, wenn man nach lehrbaren Strukturen dieser Fähigkeit sucht (z.B. Frey 1993; Reiners 1961; Schumann 1983).

Selbst ein so »delikater« und »persönlicher« Bereich wie der Umgang mit unseren Gefühlen und inneren Konflikten, die Art und Weise, wie wir mit uns selbst und anderen kommunizieren, ist heute durchaus kein strukturloser und dunkler Kontinent der Seele mehr, vor dem man als Lehrer kapitulieren muss. Was Psychologen und Therapeuten wie Dyer (1976), Ellis (1998), Lazarus/Fay (198 1) oder Schulz von Thun (1998) herausgearbeitet haben, das kann man seinen Schülern, wenn man ihnen helfen möchte, ebenso direkt beibringen wie Kopfrechnen oder Schönschreiben. Und ebenso wie es bei Kopfrechnen und Schönschreiben auch der Fall ist, entscheidet letztlich immer der einzelne Schüler, ob er die Lehren annehmen und beherzigen will oder nicht.

 

Achtens: Direktes Unterrichten ist nicht an die 45-Minuten-Stunde gebunden. Ich kann in jeden beliebigen Unterricht ein- oder mehrmals für einige Minuten Direktes Unterrichten - z.B. Üben unter Lehreranleitung - einstreuen. Ich kann auch mehrere Stunden hintereinander nach diesem Modell arbeiten.

 

Es gibt viele Muster für guten Unterricht

 

Noch einmal: Direktes Unterrichten ist nicht die einzig richtige Methode, die alle unterrichtlichen Aufgaben und Probleme löst. Direktes Unterrichten beansprucht auch nicht, ethisch wertvoller zu sein als andere Unterrichtsmuster. Wir Lehrerinnen haben Methodenfreiheit. Glücklicherweise. Denn sonst wäre das Direkte Unterrichteten vielleicht eine unerlaubte Unterrichtsmethode. Verpönt genug ist es ja jetzt schon.

 


Anmerkung (Gie.): "Darüber hinaus legen neuere Arbeiten den Schluss nahe, dass die Leistungsfähigkeit einer Unterrichtsmethode nachlässt, wenn sie als ausschließliche Methode über einen längeren Zeitraum als etwa sechs Wochen hinweg verwendet wird" (Wiechmann: Zwölf Unterrichtsmethoden. Weinheim 1999, S. 10)


Letzte Änderung: 12.1.2000